18.4 Gewöhnliche Differentialgleichungen
18.4.1 Definition. Gewöhnliche Differentialgleichung
1. Ordnung.
Unter einer gewöhnlichen Differentialgleichung 1.ter Ordnung
versteht man eine Gleichung der Form
wo
gegeben ist für ein offenes Intervall
in
welches
enthält
und eine offene Umgebung
von
in einem endlich dimensionalen
Vektorraum
(so ein
heißt (Zeit-abhängiges Vektorfeld auf
)
und wobei die Lösung
eine
differenzierbare Kurve auf einen offenen Intervall
sein soll, welches
enthält. Den Parameter
interpretiert man dabei zumeist
als Zeit und
als Ort.
Im Falle, daß
nicht von der 2.ten Variable abhängt (also ein
Orts-unabhängiges Vektorfeld ist), d.h.
zu lösen ist, wissen wir nach (18.2.2),
daß
die eindeutig bestimmte Lösung ist, falls
stetig ist.
Im Falle, daß
nicht von der 1.ten Variable abhängt (also ein
Zeit-unabhängiges Vektorfeld ist) und
ist,
also
zu lösen ist, können wir (formal) wie folgt vorgehen:
Das setzt natürlich voraus, daß wir sowohl
bestimmen können als auch dessen Umkehrfunktion
.
Indem wir nun die Probe machen können wir uns überzeugen, daß diese etwas
suspekte Rechnung wirklich eine Lösung geliefert hat:
Im allgemeinen Fall eines sowohl Zeit- als auch Orts-abhängigen Vektorfelds
können wir zumindest folgende lokale Existenz- und
Eindeutigkeitsaussage für die Lösbarkeit angeben.
18.4.4 Theorem von Picard & Lindelöf.
Es sei
stetig
und bzgl. der zweiten Variable Lipschitz (d.h.
),
wobei
der abgeschlossene Ball im Euklidischen Raum
mit Mittelpunkt
und Radius
sei.
Weiters, sei
, wobei
.
Dann existiert eine eindeutige (iterative erhaltbare) Lösung
der Differential-Gleichung
mit
Beweis.
Aus
folgert man
und da
stetig ist erhalten wir
und somit
Um den Banach'schen Fixpunkt-Satz (16.4.6) anzuwenden, übersetzen wir die
Differential-Gleichung in eine äquivalente(!)
Integral Gleichung auf dem abgeschlossenen Ball
des vollständig metrischen Raumes
.
Aus
und
erhalten wir mittels dem Hauptsatz
. Also ist
.
Umgekehrt erhalten wir aus
welches wegen dem Hauptsatz gegen
konvergiert.
Der entsprechende Integral-Operator
läßt
invariant, denn für
und
gilt
Und wenn man die äquivalente Norm
verwendet, ist
eine
-Kontraktion, denn
Also ist der Banach'sche Fixpunktsatz
anwendbar und wenn man mit einer beliebigen Funktion in
, z.B. der
konstanten Funktion
, startet und rekursiv
definiert, dann konvergiert
in
gegen den eindeutigen Fixpunkt
, die Lösung der Differentialgleichung.
[]
18.4.5 Beispiel. Nicht globale Lösungen.
Es sei
.
Die Lösung
der Differentialgleichung
mit
Anfangsbedingung
können wir mittels Separation der Variablen
bestimmen:
Die Lösung existiert somit nur auf dem Intervall
(und erreicht
zum Zeitpunkt
)
ganz im Unterschied zur global definierten Funktion
.
Für lineare Differentialgleichungen hingegen
passiert dieses Schrumpfen des Definitionsbereiches nicht:
18.4.6 Folgerung (Lineare Differential-Gleichung).
Es sei
,
dann existieren die Lösungen dort wo
und
stetig sind.
Beweis.
Solche
sind automatisch Lipschitz, da
wobei
ist. Also kann im Beweis von für
ganz
gewählt werden.
[]
Bemerkung.
- Falls
konstant und ist (also eine homogene lineare
1-dimensionale Differentialgleichung mit konstanten Koeffizienten gegeben ist),
dann ist die Lösung
.
In der Tat können wir wieder Separation der Variablen durchführen und erhalten:
- Dies gilt auch für
(d.h.
homogene lineare
mehrdimensionale Differentialgleichungen mit konstanten Koeffizienten), wobei
für alle
konvergiert
und
die Anwendung der linearen Abbildung
auf den Anfangsvektor ist.
- Falls ein Eigenvektor zum Eigenwert von
ist, d.h.
gilt,
so liefert die Methode der Variation der Konstanten
den Ansatz
. Dies ist genau dann eine Lösung der
Differentialgleichung
, wenn
,
also
und somit
ist.
Beachte, daß jede Linearkombination von Lösungen einer homogenen
linearen Differentialgleichung selbst wieder eine Lösung ist.
Wenn also
Eigenvektoren von
mit Eigenwerten
sind, so ist auch
eine Lösung zum Anfangswert
. Wenn die eine Basis bilden, so kann daraus jede
Lösung berechnet werden.
- Betrachten wir nun insbesonders den 2-dimensionalen Fall
einer homogenen lineare Differentialgleichung
Es seien und die beiden Eigenwerte dieser -Matrix und
und zugehörige Eigenvektoren. Dann können die folgenden Fälle auftreten:
-
und . Dann ist und alle Lösungen konstant.
-
und . Dies ist z.B. für , der Fall, also für
die Differentialgleichung
, , d.h.
und
. Die Lösungskurven sind also
affine Geraden parallel zum Eigenvektor.
-
. Dies ist z.B. für , der Fall, also
für die Differentialgleichung
, , d.h.
und . Die Lösungskurven sind also durch die
Exponentialfunktion parametrisierte Halbgeraden parallel zum Eigenvektor .
Je nach dem ob
oder
geht die Lösung für
oder
gegen die -Achse.
-
und .
Dann ist
und die Lösungen sind
,
parametrisieren also gerade die Halbstrahlen durch 0.
Je nach dem ob
oder
geht die Lösung für
oder
gegen 0.
-
und . Dies ist z.B. für
, , der Fall,
also für
,
, d.h.
und
wobei
ist, also
.
Die Lösungskurven gehen für
gegen 0 und und schneiden
dabei die -Achse zum Zeitpunkt
.
-
oder
. Dies ist z.B. für , ,
der Fall. Die Lösungen
,
beschreiben halbe verallgemeinerte Parabeln
die tangential an die -Achse liegen.
-
. Wie zuvor sind die Lösungen
und
und wegen
beschreiben diese verallgemeinerte Hyperbeln
.
-
und
.
Dies ist z.B. für , , der Fall, also für die
Differentialgleichung
,
. Damit ist
und somit
und
.
Dann ist
und
.
Sei nun
, dann ist
Die Lösungen parametrisieren also konzentrische Kreis um 0.
Mittels der komplexen Lösungen
können wir das ebenfalls erhalten indem wir deren Summe
bzw.
das -fache der Differenz
betrachten, siehe (19.2.15).
-
und
.
Dies ist z.B. für und der Fall mit Eigenwerten
. Komplexe Eigenvektoren sind also sind
und
zwei komplexe Lösungen.
Die Summe dieser Lösungen liefert
und die Differenz
, siehe
(19.2.15).
Also ist die reelle Lösung mit Anfangswert
durch
gegeben, parametrisiert
somit eine Spirale die für
gegen 0 bzw. konvergiert
und dabei unendlich oft um 0 herumläuft.
- Ist
beliebig (d.h. eine 1-dimensionale
homogene lineare Differentialgleichung
mit nicht-konstanten Koeffizienten vorliegen), dann folgt aus
formal
und somit
Einsetzen zeigt, daß dies in der Tat die Lösung der Differentialgleichung ist.
- Ist wie zuvor Skalar-wertig und nun beliebig
(d.h. eine 1-dimensionale
inhomogene lineare Differentialgleichung
mit nicht-konstanten Koeffizienten vorliegen),
so erhält man die Lösung
der inhomogenen Gleichung
durch Variation der Konstanten der Lösung der homogenen Gleichung
, d.h. durch den Ansatz
.
Dann ist
also
, d.h.
.
- Ist
eine Zeit-unabhängige nicht-lineare Differentialgleichung
und , so ist
eine stationäre Lösung ein sogenannter Fixpunkt.
Indem man die Ableitung
von betrachtet, kann man
im generischen Fall (d.h. wo kleine Änderungen der Matrix die Eigenschaften der
Eigenwerte wie z.B. deren Positivität nicht ändert)
zeigen, daß sich die Lösungen der Differentialgleichung
nahe im wesentlichen so wie jene der linearen
Differentialgleichung
verhalten.
Wie untersuchen z.B. die nicht-lineare Differentialgleichung
Die stationären Punkte sind die Lösungen der Gleichung
also des Gleichungssystems
0 |
|
|
0 |
|
|
und somit
,
,
,
und
.
Die Ableitung
, deren Eigenwerte und deren Eigenvektoren
sind in diesen Punkten gegeben durch:
Die ersten 4 Punkte sind also ``Sattelpunkte'' d.h. es gibt zwei
gegenüberliegende Richtungen (Eigenvektoren mit positiven Eigenwerten)
wo die Lösungen herausfliesen und zwei
gegenüberliegende Richtungen (Eigenvektoren mit negativen Eigenwerten)
wo die Lösungen hineinfliesen.
Der letzte Punkt ist eine Quelle aus der alle Lösungen herausspiralen.
18.4.9 Bemerkung. Differentialgleichungen höherer Ordnung.
Unter einer Differentialgleichung
-ter Ordnung versteht man eine
Gleichung der Form
wobei
eine lokal definierte Abbildung
ist und
die Lösung
lokal von
nach
-mal differenzierbar sein soll.
Betrachten wir als ganz einfaches Beispiel die Gleichung 2-ter Ordnung
mit einer Konstanten
Wenn wir
setzen, dann lautet die Gleichung
und hat als Lösung
, und die Konstante
kann aus der
Anfangsbedingung
als
berechnet werden.
Schließlich hat die Differentialgleichung 1-ter Ordnung
als Lösung
und die Konstante
kann aus der Anfangsbedingung
als
berechnet werden.
Die allgemeine Lösung obiger Differentialgleichung 2-ter Ordnung ist somit
durch
gegeben.
Diese Differentialgleichung tritt in der Physik an prominenter Stelle auch
wirklich auf, wie wir im nachfolgenden Beispiel (18.4.10) sehen werden.
Ganz analog kann man auch bei allgemeinen Differentialgleichungen
-ter
Ordnung vorgehen:
Wenn man
,
, ...,
für eine Lösung
setzt, dann ist
eine Lösung der gewöhnlichen
Differentialgleichung 1. Ordnung:
wobei
gegeben ist durch
Umgekehrt liefert auch jede Lösung
von
eine Lösung
von
.
Ist insbesonders
, so ist
linear in
und wird durch die Matrix
gegeben.
Deren Eigenwerte
sind gerade
die Lösungen der Gleichung
und somit (durch Entwicklung nach der letzten Zeile)
von
0 |
|
|
|
|
|
18.4.10 Beispiel. Gravitationsfelder.
Bekanntlich bewegen sich Objekte auf die keine Kräfte einwirken gleichförmig,
d.h. ihre Geschwindigkeit
ist konstant, also
und somit
, wobei
und
die Anfangsbedingung ist.
Wirkt hingegen eine Kraft
auf ein Objekt der Masse
, so gilt das
Newton'sche Kraftgesetz:
Kraft ist Masse mal Beschleunigung,
d.h. das Objekt erfährt eine zur Kraft proportionale Beschleunigung.
Ist insbesonders die Kraft konstant (z.B. ist die Erdanziehungskraft
nahe der Erdoberfläche,
wobei
die Erdbeschleunigung bezeichnet) so lautet das Newton'sche
Kraftgesetz
, wobei
die Beschleunigung
des Objekts beschreibt, welches sich zum Zeitpunkt
and der Stelle
befindet. Die Flugbahn wird also durch die Differentialgleichung
2-ter Ordnung
beschrieben und die Lösungen sind nach obigem Parabeln
.
Entfernt sich das Objekt hingegen wesentlich von der Erdoberfläche, so nimmt
die Anziehungskraft der Erde (mit dem Quadrat der Entfernung
zum Erdmittelpunkt)
ab, ist also durch
gegeben, wobei
die Gravitationskonstante und
die Masse der Erde bezeichnet.
Die zugehörige Differentialgleichung ist somit
Mittels folgendem Trick können wir Gleichungen der Form
lösen:
Sei dazu
eine Stammfunktion von
und somit ist
und
kann aus der Anfangsbedingung
bestimmt werden.
Weiters kann
durch Lösen der Differentialgleichung 1-ter Ordnung
im Prinzip mittels Separation der Variablen bestimmt werden:
In unseren Fall ist
und somit
,
also
mit
wobei
Anfangshöhe und
Anfangsgeschwindigkeit ist.
Falls
ist, und somit
nur für
verschwindet und folglich
für
gilt, also
die Fluchtgeschwindigkeit ist,
so liefert Separation der Variablen:
also
und somit
Andernfalls versuchen wir zuerst die Konstanten zu vereinfachen:
Dazu substituieren
mit
und erhalten somit
Wählen wir also
so lautet unsere Differentialgleichung
mit
Mittels separation der Variablen formen wir die Differentialgleichung um in
Substituieren wir nun
, also
und
so erhalten wir
mittels partieller Integration
Und je nach Vorzeichen von
ist
Rücksubstitution von
ergibt somit
Es gelingt uns allerdings nicht mehr die
Umkehrfunktion diese Ausdruckes für
explizit zu berechnen, aber zumindest könne wir
damit exakt berechnen zu welchen Zeitpunkt
eine vorgegebene Höhe
erreicht wird (oder auch nicht).
Für
erhalten wir
für
hingegen
Wenn wir nun mit
die Koordinaten eines Objektes im Raums bezeichnen,
wobei wir den Ursprung in den Sonnenmittelpunkt gelegt haben, so gilt
für die Kraft die die Sonne auf das Objekt der Masse
ausübt entsprechend
und die Differentialgleichung
die die Bahn des Objekts beschreibt ist durch
gegeben.
Wenn wir dies numerisch lösen, dann sehen wir, daß je nach Anfangsbedingungen
(Anfangsort
und Anfangsgeschwindigkeit
) die Bahnen durch
Ellipsen (Kreise), Parabeln und Hyperbeln beschrieben werden.
Beachte, daß die entsprechende Differentialgleichung bereits
Variablen
aufweist. Stellt man für mehrere Körper (z.B. die 9 Planeten unseres
Sonnensystems) ein ganz analog gebildetes Gleichungssystem auf, so involviert
dieses bereits
Variablen. Wir sehen also, daß es keine akademische
Spielerei war in der Mathematik 1 Vektorräume der Dimension größer als 3 zu
behandeln.
Andreas Kriegl 2002-07-01