16.2 Unstetigkeitsstellen

Wir wollen nun untersuchen woran es liegen kann, wenn eine Abbildung \bgroup\color{demo}$ f:X\to Y$\egroup bei \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup nicht stetig ist. Beachte, daß wir nur für \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup im Definitionsbereich von \bgroup\color{demo}$ f$\egroup die Frage nach der Stetigkeit von \bgroup\color{demo}$ f$\egroup bei \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup stellen können. Die Abbildung \bgroup\color{demo}$ x\mapsto \frac1x$\egroup, \bgroup\color{demo}$ \mathbb{R}\setminus\{0\}\to\mathbb{R}$\egroup ist also weder stetig noch unstetig bei 0. Für \bgroup\color{demo}$ x_0\notin X$\egroup können wir wie folgt vorgehen.


16.2.1 Definition. Stetige Fortsetzbarkeit.
Eine Abbildung \bgroup\color{demo}$ f:X\setminus\{x_0\}\to Y$\egroup heißt stetig zu \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup erweiterbar, falls ein \bgroup\color{demo}$ y_0\in Y$\egroup existiert, s.d. die Abbildung

\bgroup\color{demo}$\displaystyle \tilde f:x\mapsto \left\{\begin{array}{ll} f(x) &\text{für }x\ne x_0 \\
y_0 &\text{für }x=x_0 \end{array}\right.
$\egroup

stetig bei \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup ist. Dieses \bgroup\color{demo}$ f$\egroup heißt dann auch stetige Fortsetzung von \bgroup\color{demo}$ f$\egroup.


Beispiel.
Es kann gezeigt werden, daß die Funktion \bgroup\color{demo}$ f:x\mapsto e^x$\egroup welche wir bislang nur für rationale \bgroup\color{demo}$ x$\egroup kennen zu einer stetigen Funktion \bgroup\color{demo}$ \mathbb{R}\to\mathbb{R}$\egroup fortgesetzt werden kann

Damit können wir auch Konvergenz von Folgen als eine Stetigkeitaussage formulieren und somit die Schreibweise \bgroup\color{demo}$ x_{\infty}$\egroup für den Grenzwert der Folge \bgroup\color{demo}$ x$\egroup nachträglich begründen.




16.2.2 Lemma. Konvergenz von Folgen als Stetigkeit.
Eine Folge \bgroup\color{demo}$ (x_k)_{k\in\mathbb{N}}$\egroup kann genau dann zu einer stetigen Abbildung \bgroup\color{demo}$ \mathbb{N}_{\infty}\to X$\egroup erweitert werden, wenn sie konvergiert. Die Metrik auf \bgroup\color{demo}$ \mathbb{N}_{\infty}:=\mathbb{N}\cup\{+{\infty}\}$\egroup ist dabei durch \bgroup\color{demo}$ d(n,m):=\vert\frac1n-\frac1m\vert$\egroup gegeben, wobei wir \bgroup\color{demo}$ \frac1{+{\infty}}:=0$\egroup gesetzt haben.

Beweis. ( \bgroup\color{demo}$ \Rightarrow$\egroup) Sei \bgroup\color{demo}$ x:\mathbb{N}_{\infty}\to X$\egroup stetig mit \bgroup\color{demo}$ x(n):=x_n$\egroup und \bgroup\color{demo}$ x_{\infty}:=x(+{\infty})$\egroup. Dann konvergiert \bgroup\color{demo}$ x_n\to x_{\infty}$\egroup, denn zu \bgroup\color{demo}$ \varepsilon >0$\egroup existiert wegen der Stetigkeit bei \bgroup\color{demo}$ +{\infty}$\egroup ein \bgroup\color{demo}$ \delta >0$\egroup mit \bgroup\color{demo}$ d(k,+{\infty})<\delta \Rightarrow \vert x_k-x_{\infty}\vert<\varepsilon $\egroup. Wir wählen ein \bgroup\color{demo}$ N$\egroup mit \bgroup\color{demo}$ \frac1N<\delta $\egroup, dann ist \bgroup\color{demo}$ \vert x_k-x_{\infty}\vert<\varepsilon $\egroup für alle \bgroup\color{demo}$ k\geq N$\egroup, denn \bgroup\color{demo}$ d(k,+{\infty}):=\frac1k\leq \frac1N<\delta $\egroup.

( \bgroup\color{demo}$ \Leftarrow$\egroup) Umgekehrt sei \bgroup\color{demo}$ x_{\infty}:=\lim_n x_n$\egroup dann definieren wir \bgroup\color{demo}$ x:\mathbb{N}_{\infty}\to X$\egroup durch \bgroup\color{demo}$ x(n):=x_n$\egroup für \bgroup\color{demo}$ n\in\mathbb{N}$\egroup und \bgroup\color{demo}$ x(+{\infty}):=x_{\infty}$\egroup. Diese Abbildung ist stetig bei \bgroup\color{demo}$ +{\infty}$\egroup, denn zu \bgroup\color{demo}$ \varepsilon >0$\egroup existiert ein \bgroup\color{demo}$ N\in\mathbb{N}$\egroup mit \bgroup\color{demo}$ \vert x_n-x_{\infty}\vert<\varepsilon $\egroup für alle \bgroup\color{demo}$ n\geq N$\egroup. Setzen wir \bgroup\color{demo}$ \delta :=\frac1N$\egroup, so ist \bgroup\color{demo}$ \vert x(n)-x(+{\infty})\vert=\vert x_n-x_{\infty}\vert<\varepsilon $\egroup für \bgroup\color{demo}$ d(n,+{\infty})=\frac1n<\frac1N=\delta $\egroup.     []

Beachte, daß in isolierten Punkten \bgroup\color{demo}$ x_0\in X$\egroup, d.h. solchen für welche eine \bgroup\color{demo}$ \delta $\egroup-Umgebung existiert, die nur \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup aus \bgroup\color{demo}$ X$\egroup enthält, jede Abbildung \bgroup\color{demo}$ f:X\to Y$\egroup stetig ist.

Die nicht-Stetigkeit einer Abbildung \bgroup\color{demo}$ f:X\to Y$\egroup in einem nicht-isolierten Punkt \bgroup\color{demo}$ x_0\in X$\egroup kann verschiedene Gründe haben. Einerseits kann es daran liegen, daß nur der Funktionswert \bgroup\color{demo}$ f(x_0)$\egroup bei \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup einen ungeeigneten Wert hat. Dies führt zu:


16.2.3 Definition. $ \lim_{x\to x_0}f(x)$.
Es sei \bgroup\color{demo}$ x_0\in X$\egroup kein isolierter Punkt, d.h. in jedem Ball um \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup liegen andere Punkte aus \bgroup\color{demo}$ X$\egroup und sei \bgroup\color{demo}$ f:X\setminus\{x_0\}\to Y$\egroup eine Abbildung. Dann verstehen wir unter \bgroup\color{demo}$ \lim_{x\to x_0}f(x)$\egroup jenen Punkt \bgroup\color{demo}$ y_0$\egroup von \bgroup\color{demo}$ Y$\egroup (sofern er existiert), s.d.

\bgroup\color{demo}$\displaystyle \forall \varepsilon >0\exists\delta >0\forall ...
...X\setminus\{x_0\}:d(x,x_0)<\delta \Rightarrow d(f(x),y_0)<\varepsilon .
$\egroup

Offensichtlich ist \bgroup\color{demo}$ f$\egroup genau dann stetig zum Punkt \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup fortsetzbar, wenn der Limes \bgroup\color{demo}$ \lim_{x\to x_0}f(x)$\egroup existiert. Weiters ist \bgroup\color{demo}$ f:X\to Y$\egroup genau dann stetig bei \bgroup\color{demo}$ x_0\in X$\egroup wenn \bgroup\color{demo}$ f(x_0)=\lim_{x\to x_0}f(x)$\egroup.


16.2.4 Bemerkung. Hebbare Unstetigkeitsstelle.
Es sei \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup nicht isoliert in \bgroup\color{demo}$ X$\egroup und \bgroup\color{demo}$ f:X\to Y$\egroup nicht stetig bei \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup. Dann heißt \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup hebbare Unstetigkeitsstelle, wenn \bgroup\color{demo}$ \lim_{x\to x_0}f(x)$\egroup existiert, d.h. \bgroup\color{demo}$ f$\egroup durch Abänderung auf \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup zu einer bei \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup stetigen Funktion gemacht werden kann.


16.2.5 Bemerkung. Unbeschränktheit an einer Stelle.
Wenn eine nicht hebbare Unstetigkeitsstelle \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup von \bgroup\color{demo}$ f:X\to \mathbb{R}$\egroup vorliegt, so kann das daran liegen, daß \bgroup\color{demo}$ f$\egroup bei \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup unbeschränkt ist, d.h.

\bgroup\color{demo}$\displaystyle \forall N\exists x_N\in X\setminus\{x_0\}$\egroup mit \bgroup\color{demo}$\displaystyle \vert f(x_N)\vert\geq N.
$\egroup

Oder aber es gibt Folgen \bgroup\color{demo}$ x_n\to x_0$\egroup mit verschiedenen Limiten \bgroup\color{demo}$ \lim_{n\to{\infty}}f(x_n)$\egroup. Für \bgroup\color{demo}$ X\subseteq \mathbb{R}$\egroup kann dies insbesonders verschiedene Werte liefern, wenn wir uns von links oder von rechts an \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup annähern. Also definieren wir:


16.2.6 Links- und rechtsseitige Grenzwerte.
Für Funktionen \bgroup\color{demo}$ f:\mathbb{R}\supseteq X\to Y$\egroup können wir auch die einseitigen Grenzwerte \bgroup\color{demo}$ \lim_{x\to x_0-}f(x)$\egroup und \bgroup\color{demo}$ \lim_{x\to x_0+}f(x)$\egroup betrachten, d.h. die Grenzwerte der Funktionen \bgroup\color{demo}$ f_<:=f\vert _{\{x:x<x_0\}}$\egroup und \bgroup\color{demo}$ f_>:=f\vert _{\{x:x>x_0\}}$\egroup.




Proposition. Stetigkeit via einseitiger Stetigkeit.
Es ist \bgroup\color{demo}$ f:\mathbb{R}\supseteq X\to Y$\egroup genau dann stetig bei \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup, wenn die einseitigen Grenzwerte \bgroup\color{demo}$ \lim_{x\to x_0-}f(x)$\egroup und \bgroup\color{demo}$ \lim_{x\to x_0+}f(x)$\egroup existieren und gleich sind.

Falls zwar die einseitigen Grenzwerte existieren aber ungleich sind, so spricht man von einer Sprungstelle \bgroup\color{demo}$ x_0$\egroup von \bgroup\color{demo}$ f$\egroup.

Image ..//pic-007.gif

Beweis. ( \bgroup\color{demo}$ \Rightarrow$\egroup) ist offensichtlich.

( \bgroup\color{demo}$ \Leftarrow$\egroup) Sei \bgroup\color{demo}$ f(x_0):=\lim_{x\to x_0-}f(x)=\lim_{x\to x_0+}f(x)$\egroup. Für \bgroup\color{demo}$ \varepsilon >0$\egroup existieren somit positive \bgroup\color{demo}$ \de_{<}$\egroup und \bgroup\color{demo}$ \de_{>}$\egroup s.d. \bgroup\color{demo}$ d(f(x),f(x_0))<\varepsilon $\egroup für \bgroup\color{demo}$ x\in X$\egroup mit \bgroup\color{demo}$ x_0-\de_{<}<x<x_0$\egroup und auch für \bgroup\color{demo}$ x\in X$\egroup mit \bgroup\color{demo}$ x_0<x<x_0+\de_>$\egroup. Wir setzen \bgroup\color{demo}$ \delta :=\min\{\de_<,\de_>\}$\egroup und erhalten \bgroup\color{demo}$ d(f(x),f(x_0))<\varepsilon $\egroup für alle \bgroup\color{demo}$ x\ne x_0$\egroup mit \bgroup\color{demo}$ \vert x-x_0\vert<\delta $\egroup.     []

Für \bgroup\color{demo}$ f:\mathbb{R}\to\mathbb{R}^q$\egroup haben wir die Stetigkeit auf jene der Komponenten \bgroup\color{demo}$ \mathbb{R}\to\mathbb{R}$\egroup zurückführen können. Im Fall \bgroup\color{demo}$ f:\mathbb{R}^p\to \mathbb{R}$\egroup können wir die partiellen Funktionen betrachten: Für \bgroup\color{demo}$ p=2$\egroup und \bgroup\color{demo}$ (x_0,y_0)\in\mathbb{R}^2$\egroup betrachten wir \bgroup\color{demo}$ f_{y_0},f_{x_0}:\mathbb{R}\to\mathbb{R}$\egroup gegeben durch \bgroup\color{demo}$ f_{y_0}(x):=f(x,y_0)$\egroup sowie \bgroup\color{demo}$ f_{x_0}(y):=f(x_0,y)$\egroup. D.h. man hält alle bis auf eine Variable fest und läßt nur diese in \bgroup\color{demo}$ \mathbb{R}$\egroup laufen.


16.2.8 Beispiel. Partielle Stetigkeit.
Es ist \bgroup\color{demo}$ f:\mathbb{R}^2\to\mathbb{R}$\egroup, gegeben durch \bgroup\color{demo}$ f(0,0):=0$\egroup und \bgroup\color{demo}$ f(x,y):=\frac{xy}{x^2+y^2}$\egroup sonst, nicht stetig bei 0, aber dennoch partiell stetig, d.h. \bgroup\color{demo}$ x\mapsto f(x,y)$\egroup und \bgroup\color{demo}$ y\mapsto
f(x,y)$\egroup sind stetig. Um das einzusehen schreiben wir \bgroup\color{demo}$ (x,y)$\egroup mittels Polarkoordinaten als

\bgroup\color{demo}$\displaystyle (x,y)-(x_0,y_0)=(r\cos(\varphi ),r\sin(\varphi ))$\egroup mit \bgroup\color{demo}$\displaystyle r>0$\egroup und \bgroup\color{demo}$\displaystyle \varphi \in [0,2\pi].
$\egroup

Die Stetigkeit bei \bgroup\color{demo}$ (x_0,y_0)$\egroup bedeutet nun, daß \bgroup\color{demo}$ f(x,y)-f(x_0,y_0)$\egroup für \bgroup\color{demo}$ r\to
0$\egroup beliebig klein gemacht werden kann, unabhängig vom Winkel \bgroup\color{demo}$ \varphi $\egroup. In unserem Beispiel ist \bgroup\color{demo}$ (x_0,y_0)=0$\egroup und \bgroup\color{demo}$ f(x,y)=\frac{r\cos(\varphi )r\sin(\varphi )}{r^2\sin(\varph...
...^2\cos(\varphi )^2}=\sin(\varphi )\cos
(\varphi )=\frac12\sin(2\varphi )$\egroup und das geht nicht gegen 0.

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16.2.9 Proposition. Partielle Stetigkeit.
Es sei \bgroup\color{demo}$ f:\mathbb{R}^2\to\mathbb{R}$\egroup partiell stetig auf \bgroup\color{demo}$ \mathbb{R}^2$\egroup und zwar in einer Variable sogar gleichmäßig bezüglich der anderen, d.h. \bgroup\color{demo}$ \delta $\egroup in der Definition der Stetigkeit kann unabhängig von der anderen Variable gewählt werden, symbolisch

\bgroup\color{demo}$\displaystyle \forall a\in\mathbb{R}\forall\varepsilon >0\ex...
...ert x-a\vert<\delta \Rightarrow \vert f(x,y)-f(a,y)\vert<\varepsilon .
$\egroup

Dann ist \bgroup\color{demo}$ f$\egroup stetig.

Beweis. Wir betrachten

$\displaystyle \vert f(x,y)-f(a,b)\vert$ $\displaystyle \leq \vert f(x,y)-f(a,y)\vert + \vert f(a,y)-f(a,b)\vert$    

Nach Voraussetzung existiert ein \bgroup\color{demo}$ \alpha >0$\egroup mit \bgroup\color{demo}$ \vert f(x,y)-f(a,y)\vert<\varepsilon $\egroup für alle \bgroup\color{demo}$ \vert x-a\vert<\alpha $\egroup und beliebigen \bgroup\color{demo}$ y$\egroup. Weiters existiert ein \bgroup\color{demo}$ \beta >0$\egroup mit \bgroup\color{demo}$ \vert f(a,y)-f(a,b)\vert<\varepsilon $\egroup für alle \bgroup\color{demo}$ \vert y-b\vert<\beta $\egroup. Somit ist \bgroup\color{demo}$ \vert f(x,y)-f(a,b)\vert<2\varepsilon $\egroup falls \bgroup\color{demo}$ \vert(x,y)-(a,b)\vert<\delta :=\min\{\alpha ,\beta \}$\egroup.     []

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Andreas Kriegl 2002-07-01