15.1 Motivation

Wir wollen damit beginnen anhand einiger Beispiele zu erläutern, worum wir uns mit Analysis und damit mit Grenzprozessen oder ungenau formuliert dem unendlich Kleinen beschäftigen müssen.


15.1.1 Der freie Fall.
In der Physik erkennt man, daß sich Körper, die keinen Kräften ausgesetzt sind, gleichförmig bewegen, d.h. daß ihre Geschwindigkeit konstant bleibt, also in gleicher Zeit gleich langer Weg zurückgelegt wird. Falls andererseits eine konstante Kraft $ F\ne 0$ (wie z.B. die Erdanziehung in Bodennähe) auf den Körper wirkt, so ändert sich seine Geschwindigkeit proportional zur vergangenen Zeit und zur Kraft. Sei also $ v(t)$ die Geschwindigkeit zum Zeitpunkt $ t$ (wir setzen der Einfachheit halber $ v(0)=0$ voraus) und $ \Delta t$ eine Zeitspanne, dann gilt

$\displaystyle v(t+\Delta t) = v(t) + m\cdot \Delta t\cdot F
$

mit einem Proportionalitätsfaktor $ m$. Setzen wir $ t:=0$ und $ s:=\Delta t$, so erhalten wir $ v(s)=v(0)+m  F s$. Nun interessiert uns aber nicht primär die Geschwindigkeit sondern der zurückgelegte Weg $ x(t)$. Mittlere Geschwindigkeiten $ v$ sind per Definition der Quotient aus zurückgelegten Weg und verstrichener Zeit, die Momentangeschwindigkeit $ v(t)$ sollte also durch $ \frac{x(t+\Delta t)-x(t)}{\Delta t}$ angenähert werden, und zwar umso besser, je näher $ t+\Delta t$ an $ t$ liegt, d.h. je kleiner $ \vert\Delta t\vert$ ist. Dies ist der Anstieg der Sehne von $ x$ im Zeit-Weg-Diagramm. Die Momentangeschwindigkeit $ v(t)$ sollte also der Anstieg der Tangente zum Zeitpunkt $ t$ sein, d.h.

$\displaystyle v(t):=x'(t)=\lim_{\Delta t\to 0}\frac{x(t+\Delta t)-x(t)}{\Delta t}.
$

Vorläufig nur durch Probieren erhalten wir die Lösung $ x(t)=x(0)+\frac{m F}2 t^2$ dieser Differentialgleichung, denn dann ist

$\displaystyle \frac{x(t+\Delta t)-x(t)}{\Delta t}$ $\displaystyle = \frac{x(0)+\frac{m F}2  (t+\Delta t)^2-x(0)+\frac{m F}2  t^2}{\Delta t}$    
  $\displaystyle = \frac{m F}2  (2 t+\Delta t)\to m F  t=v(t).$    

Eine Konsequenz davon ist, daß geworfene/geschossene Gegenstände sich längs einer Parabel bewegen (mit konstanter horizontaler Geschwindigkeit).


15.1.2 Berechnung von $ \pi$.
Per Definition ist $ \pi$ die Länge eines Halbkreises mit Radius 1 oder auch die Fläche eines Vollkreises mit selben Radius. Natürlich ist nicht klar, daß dies die gleiche Zahl liefert. Auch ist uns vorerst nur bekannt, wie die Fläche von Rechtecken und damit von rechtwinkeligen Dreiecken berechnet werden kann. Und ebenso nur die Länge von Polygonzügen. Die Länge einer Kurve $ c:[0,1]\to \mathbb{R}^p$ können wir nur durch die Länge von Polygonzügen $ c(0),c(t_1),\dots,c(t_{n-1}),c(1)$ annähern, wobei $ 0=t_0<t_1<\dots<t_{n-1}=t_n=1$ eine Zerlegung der Strecke von 0 nach $ 1$ ist. Wir definieren folglich die Länge der Kurve $ c:[0,1]\to \mathbb{R}^p$ als $ \sup\{\sum_{k=1}^n \vert c(t_k)-c(t_{k-1})\vert:n\in\mathbb{N},0=t_0<\dots<t_n=1\}$. Nun betrachten wir regelmäßige Vielecke, die wir dem Einheitskreis ein- und umschreiben. Die Fläche des Einheitskreises liegt dann offensichtlich zwischen jener der eingeschriebenen und der umgeschriebenen Vielecke.

Image ..//pic-002BW.gif

Es sei

$ \bullet$
$ r$ ...der Radius des Inkreises des eingeschriebenen $ n$-Ecks
$ \bullet$
$ a$ ...die halbe Seitenlänge des eingeschriebenen $ n$-Ecks
$ \bullet$
$ u=na$ ...der halbe Umfang des eingeschriebenen $ n$-Ecks
$ \bullet$
$ f=nar$ ...die Fläche des eingeschriebenen $ n$-Ecks
$ \bullet$
$ R$ ...der Radius des Umkreises des umschriebenen $ n$-Ecks
$ \bullet$
$ A$ ...die halbe Seitenlänge des umschriebenen $ n$-Ecks
$ \bullet$
$ U=nA$ ...der halbe Umfang des umschriebenen $ n$-Ecks
$ \bullet$
$ F=nA=U$ ...die Fläche des umschriebenen $ n$-Ecks
Sei weiters
$ \bullet$
$ O$ ...der Mittelpunkt des Kreises
$ \bullet$
$ B$ ...der Berührpunkt des Inkreises des eingeschriebenen $ n$-Ecks
$ \bullet$
$ I$ ...eine benachbarte Ecke des eingeschriebenen $ n$-Ecks
$ \bullet$
$ E$ ...eine Ecke des umschriebenen $ n$-Ecks
Entsprechend bezeichnen gestrichene Variablen die selben Größen aber für $ n'$-Ecke mit $ n'=2n$. Dann sind folgende rechtwinkelige Dreiecke ähnlich:

$\displaystyle \Delta (IBE)\sim \Delta (E'I'E)\sim \Delta (OBI)\sim \Delta (OIE).
$

Somit gilt:

$\displaystyle a:(R-r):A=A':(R-1):(A-A')=r:a:1=1:A:R.
$

Damit ist $ \frac{a}{A'}=\frac{R-r}{R-1}=\frac{1/r-r}{1/r-1}=\frac{1-r^2}{1-r}=1+r$, also

$\displaystyle \frac1{A'}=\frac{1+r}{a}=\frac1{a}+\frac{r}{a}=\frac1{a}+\frac1{A}.
$

Somit ist

$\displaystyle U'=n'A'=2n\frac1{1/a+1/A}=\frac2{1/u+1/U},$ das harmonische Mittel$\displaystyle .
$

Es ist

$\displaystyle f'=n'a'r'=n'\Delta (OII')=2n\frac{a}2=n a=u,
$

also

$\displaystyle F'=U'=\frac2{1/u+1/U}=\frac2{1/f'+1/F}.
$

Weiters ist wegen $ a=rA$

$\displaystyle (f')^2=(na)^2=(nar)(nA)=f F
$

und somit $ u'$ das geometrische Mittel aus $ u$ und $ U'$:

$\displaystyle (u')^2=(f'')^2=f' F'=u U'.
$

Diese Gleichungen ermöglichen es also aus den halben Umfängen $ (u,U)$ bzw. den Flächen $ (f,F)$ jenen der Vielecke mit doppelt sovielen Ecken rekursive zu berechnen. Für die Quadrate ergibt sich $ A=1$ und somit $ U=F=4A=4$ sowie $ R=\sqrt{2}$ und damit $ a=A/R=1/\sqrt{2}$, $ u=4a=2\sqrt{2}$, $ r=\sqrt{1-a^2}=a$ und $ f=4ar=2$. Offensichtlich ist $ f<$Fläche des Kreises$ <F$ und, da die approximierenden Polygonzüge des Kreises stückweise kürzere Längen haben als die Projektion auf das umschriebene Vieleck, gilt ebenso $ u<$Länge des Halbkreises$ \leq U$. Wir machen nun noch eine Fehlerabschätzung: Es ist

$\displaystyle F'-f'$ $\displaystyle = \frac{2f'F}{F+f'}-f' = f' \frac{F-f'}{F+f'}$    
  $\displaystyle = f' \frac{\sqrt{F^2}-\sqrt{fF}}{\sqrt{F^2}+\sqrt{fF}}) = f' \frac{\sqrt{F}-\sqrt{f}}{\sqrt{F}+\sqrt{f}}) = \frac{f'}{(\sqrt{F}+\sqrt{f})^2} (F-f)$    
  $\displaystyle \sim \frac{\pi}{(2\sqrt{\pi})2} (F-f) = \frac{F-f}4$    

Wegen $ 4^5=2^{10}=1024\sim 10^3$, nimmt die Genauigkeit nach jeweils 5 Rekursionsschritten um 3 Dezimalstellen zu. Die Größen $ u,U,f,F$ approximieren somit $ \pi$ beliebig genau und insbesonders ist die Fläche und der halbe Umfang des Einheitskreises gleich groß.

animation animation

Wir werden später die Fläche des Einheitskreises wie folgt durch ein Integral berechnen

$\displaystyle \int_{-1}^{1} 2\sqrt{1-x^2} dx$ $\displaystyle = 2\int_{-\pi/2}^{\pi/2}\sqrt{1-\sin(t)^2} \cos(t) dt$    
  $\displaystyle = \int_{-\pi/2}^{\pi/2} 2\cos(t)^2 dt = \int_{-\pi/2}^{\pi/2} 1+\cos(2t)  dt$    
  $\displaystyle = \left[t+\frac{\sin(2t)}2\right]_{-\pi/2}^{\pi/2} = \pi + \frac{\sin(\pi)}2-\frac{\sin(-\pi)}2 = \pi$    


15.1.3 Rekursive Berechnung von $ \sqrt{a}$.
Die Wurzel erfüllt $ \sqrt{a}^2=a$, d.h. wir versuchen $ a$ in ein Produkt $ x\cdot y$ zweier gleicher Zahlen zu zerlegen. Sei o.B.d.A. $ 0<a<1$, andernfalls bestimmen wir $ 1/\sqrt{a}=\sqrt{1/a}$. Wir versuchen es mit $ x:=1$, dann wäre $ y:=a/x=a$ und somit $ x>\sqrt{a}>y$. Also probieren wir ein neues besseres $ x':=\frac{x+y}2$. Das zugehörige $ y':=a/x'$ erfüllt $ x>x'>\sqrt{a}>y'>y$, denn $ \frac{x+y}2>\sqrt{x\cdot y}=a$. Fahren wir so fort, so erhalten wir Folgen

$\displaystyle 1=x>x'>x''>\dots>\sqrt{a}>\dots>y''>y'>y=a
$

Beachte, daß

$\displaystyle \vert x'-\sqrt{a}\vert
= \left\vert\frac12(x+\frac{a}{x})-\sqrt{a...
... \left\vert\frac{x^2+a-2\sqrt{a}x}{2x}\right\vert
= \frac{(x-\sqrt{a})^2}{2x}.
$

Grob gesprochen bedeutet dies, daß sich die Anzahl der bereits richtigen Stellen von jeden Schritt auf den nächsten verdoppelt.

Die verallgemeinerungsfähige geometrische Idee die dahinter steckt ist, daß wir eine Nullstelle von $ f:x\mapsto x^2-a$ suchen. Dazu wählen wir eine Näherungsnullstelle $ x_0:=1$, legen die Tangente an $ f$ im Punkte $ (x_0,f(x_0))$, d.h. $ y-f(x_0)=f'(x_0) (x-x_0)$ und ersetzen nun $ x_0$ durch die Nullstelle $ x_1$ der Tangente, also

$\displaystyle x_1:=x_0-\frac{f(x_0)}{f'(x_0)}=
x_0-\frac{x_0^2-a}{2 x_0}=\frac12\left(x_0+\frac{a}{x_0}\right).
$

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15.1.4 Brennspiegel.
Wir wollen nun einen Spiegel konstruieren, der parallel (zur $ y$-Achse) einfallende Lichtstrahlen in einem Punkt (den wir mit $ O$ bezeichnen) konzentriert. Das ist natürlich auch für Radioteleskope und in umgekehrter Richtung für Scheinwerfer interessant. Da Lichtstrahlen kürzeste Verbindungslinien sind, ist der Einfallswinkel auf eine Fläche gleich dem Ausfallswinkel. Sei also $ (x,y)$ ein Punkt auf der Schnittkurve und der Anstieg der Schnittkurve $ y'=k=\tan(\alpha )$.

animation animation

Die Ähnlichkeit von Dreiecken ergibt

$\displaystyle x_1:y:r_1=r_2:s:x_2=s:(r_1+r_2):d
$

und somit

$\displaystyle \frac{r_1}{s}$ $\displaystyle =\frac{r_1+r_2}{s}-\frac{r_2}{s}=\frac{y}{x_1}-\frac{x_1}{y}$    
$\displaystyle \frac{x}{y}$ $\displaystyle =\frac{x_1+x_2}{y}=\frac{x_1}{y}+\frac{x_2}{y} =\frac{x_1}{y}+\frac{x_2}{s}\frac{s}{y}$    
  $\displaystyle =\frac{x_1}{y}+\frac{r_1}{y}\frac{s}{y} =\frac{x_1}{y}+\frac{r_1}{y^2}\frac{r_1}{y/x_1-x_1/y}$    
  $\displaystyle =\frac{x_1}{y}+\frac{x_1^2+y^2}{y^2(y/x_1-x_1/y)} =\frac{x_1}{y}\left(1+\frac{(x_1/y)^2+1}{1-(x_1/y)^2}\right)$    
$\displaystyle =k \frac{2}{1-k^2}$    

oder direkter

$\displaystyle \frac{x}{y}=\tan(2\alpha )=\frac{2\tan(\alpha )}{1-\tan(\alpha )^2}=\frac{2k}{1-k^2}
$

wobei wir $ y$ als positiven Abstand aufgefaßt haben. Die $ y$-Koordinate des Punktes $ P$ ist jedoch negativ, so daß die Gleichung eigentlich

$\displaystyle \frac{x}{-y}=\frac{2k}{1-k^2}
$

lautet und somit ist

$\displaystyle k=\frac{y}{x}\pm\sqrt{\left(\frac{y}{x}\right)^2+1}.
$

Wegen $ k>0$ (für $ x>0$) müssen wir $ +$ bei $ \pm$ wählen. Dies ist eine Differentialgleichung für die Kurve, welche wir mit dem Ansatz $ u:=\frac{y}{x}$ lösen können:

$\displaystyle y'$ $\displaystyle = x u'+u$    
$\displaystyle x u'+u=y'$ $\displaystyle =u+\sqrt{1+u^2}$    
$\displaystyle \frac{u'}{\sqrt{1+u^2}}$ $\displaystyle = \frac1x$    
$\displaystyle \int\frac{du}{\sqrt{1+u^2}}$ $\displaystyle = \int\frac{dx}{x}$    
$\displaystyle \operatorname{ln}(u+\sqrt{1+u^2})$ $\displaystyle =C+\operatorname{ln}(x)=\operatorname{ln}(c x)$    
$\displaystyle u+\sqrt{1+u^2}$ $\displaystyle = cx$    
$\displaystyle 1+u^2$ $\displaystyle = (cx-u)^2=c^2x^2-2cxu + u^2$    
$\displaystyle u$ $\displaystyle = \frac{c^2x^2-1}{2cx}$    
$\displaystyle y = u  x$ $\displaystyle = \frac{c^2x^2-1}{2c}=\frac{c}{2}x^2 - \frac1{2c}$    

Andreas Kriegl 2002-07-01