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Es gibt einige Gründe dafür, warum Mathematiker nach einer axiomatischen Beschreibung der Grundlagen streben. Eine rein naive Betrachtung der Mengenlehre liefert verschiedene Paradoxien, von denen die Russelsche Antinomie die verheerendste ist. Nach der ursprünglichen Definition von Cantor (siehe Seite 117) ist es erlaubt, die Menge $$ R := \{x \mid x \notin x \} $$ zu betrachten. Danach können wir uns die Frage stellen, ob $R\in R$ gilt. Ist $R\in R$ erfüllt, dann folgt aus der Definition von $R$ sogleich, dass $R\notin R$. Wenn andererseits $R\notin R$ gilt, dann folgt aus der Definition von $R$, dass $R\in R$ liegt. Wir haben also $R\in R\liff R\notin R$ gezeigt, ein Widerspruch, der unmittelbar aus der Definition von $R$ folgt, die aber im Einklang mit Cantors ursprünglicher naiver Mengendefinition steht. Die logische Konsequenz ist somit, Cantors Definition zu verwerfen und nach einer Definition des Mengenbegriffes zu suchen, die (zumindest) diesen Widerspruch nicht zulässt.

Die modernen Axiome der Mengenlehre, unter anderem die oben eingeführten Axiome von Zermelo und Fraenkel, leisten genau dies. In ZFC ist das Fundierungsaxiom (ZF9) dafür verantwortlich, dass die Definition der Menge $R$ unmöglich wird.

Die Axiomatisierung der Mengenlehre ist aber noch nicht genug der Formalisierung, wie der ein wenig subtilere Fehler in der nun folgenden Argumentation zeigt.


Theorem 4.5.1 (Natürliche Zahlen begrenzter Länge) Jede natürliche Zahl lässt sich in höchstens $66$ Zeichen definieren.
Beweis: Wir verwenden (ZF3) und definieren \begin{equation*} M := \{k\in\N\mid \text{$k$ lässt sich nicht durch höchstens $66$ Zeichen definieren}\}.\quad\text(4.10) \end{equation*} Jede nichtleere Menge $M$ natürlicher Zahlen hat ein Minimum. Das werden wir in Theorem 6.1.14 beweisen. Wenn $M\neq\emptyset$ gilt, hat $M$ also ein eindeutiges kleinstes Element $m$, und es gilt wegen (4.10) \begin{equation*} m = \min \{k\in\N\mid \text{$k$ lässt sich nicht durch höchstens $66$ Zeichen definieren}\}.\quad\text{(4.11)} \end{equation*} Nun ist aber (4.11) eine Definition von $m$, die $66$ Zeichen benötigt, und daher gilt $m\notin M$, ein Widerspruch zu der Tatsache, dass $m$ das kleinste Element von $M$ ist. Daher gilt $M=\emptyset$, und daher lässt sich jede natürliche Zahl durch höchstens $66$ Zeichen definieren.

Der gerade bewiesene Satz hat nun eine bedeutende Konsequenz.
Korollar 4.5.2 (Endlichkeit von $\N$) Die Menge $\N$ ist endlich.
Beweis: Es gibt nur endlich viele Zeichen, sagen wir $K$ viele. Aus Theorem 4.5.1 folgt dann, dass es höchstens $1+K+K^2+\cdots+K^{66}=\tfrac{K^{67}-1}{K-1}$ natürliche Zahlen gibt, da es nur so viele mögliche Definitionen gibt, die höchstens $66$ Zeichen enthalten.

Aus den Peano--Axiomen, die wir in Abschnitt 6.1.1 aus ZFC beweisen werden, folgt aber, dass die Menge $\N$ nicht endlich sein kann. Sonst hätte $\N$ nämlich ein maximales Element $N$, und $N$ hätte dann keinen Nachfolger $S(N)$, ein Widerspruch zu (PA2), siehe Bemerkung 6.1.1.

Es sieht also so aus, als ob wir einen Widerspruch in ZFC gefunden hätten: Die Existenz und Unendlichkeit der Menge $\N$ folgen aus ZFC, wie wir in Abschnitt 6.1.1 zeigen werden. Gleichzeitig folgt aus ZFC das Korollar 4.5.2 und damit die Endlichkeit von $\N$.

Wo liegt also der Fehler?

Das lässt sich leider nicht allein mit dem uns zur Verfügung stehenden Wissen klären. Er liegt in der Definition (4.10) von $M$. Dort haben wir das Axiom (ZF3) verwendet, und einzig die "Auswahlregel" $$ \text{$k$ lässt sich nicht durch höchstens $66$ Zeichen definieren} $$ bleibt als Fehlerquelle übrig. Die Auswahlregeln gehören in das Gebiet der Logik, "leben" also "eine Stufe unter" der Mengenlehre. Die Logik haben wir aber noch nicht formalisiert sondern bislang naiv behandelt. An dieser Stelle zahlen wir den Preis dafür mit einem Widerspruch. Dieser lässt sich heilen, indem wir die Logik formalisieren und genau festlegen, welche Auswahlregeln in ZFC zugelassen werden dürfen. Wer sich für diese und ähnliche Themenkreise interessiert, kann die Hintergründe etwa in HERMES [34] nachlesen.